Archivs culturals en Surselva

«Das Bedürfnis ist sehr gross»
In der Surselva soll ein Netz von Kulturarchiven entstehen

Jano Felice Pajarola

ACTWenn Tujetschs Gemeindearchivar Tarcisi Hendry wieder mal von jemandem aus dem Tal eine Tasche oder eine Schachtel voller alter Dokumente erhält, ist er glücklich. Was kommt da wohl zum Vorschein? Das Auspacken, Entdecken, «das sind die spannendsten Momente für mich», meint Hendry. Wählerisch ist er dabei grundsätzlich nicht. «Ich sage jeweils: Gebt mir einfach alles, ich sortiere es dann.» Mit dem Ablehnen von Angeboten ist er vorsichtig, das könnte sich herumsprechen, mit negativen Auswirkungen.

Das zumindest im ersten Schritt fast einschränkungslose Sammeln hat Hendry so manche Trouvaille eingebracht, zumal Tujetsch eine Gemeinde ist, in der seit jeher eine starke Affinität zur eigenen Geschichte besteht; immer wieder haben sich – und das schon seit Pater Placidus a Spescha – einheimische Köpfe mit der kommunalen Historie beschäftigt. «Und derzeit ist gerade bei den Leuten mit Jahrgängen in den Dreissiger- und Vierzigerjahren das Bedürfnis sehr gross, Dokumente zur Aufbewahrung abzugeben. Sie merken, dass die jüngere Familiengeneration oft kein sonderliches Interesse daran hat.» Im Gemeindearchiv, wo Hendry die zusammengetragenen Dokumente unter «Fatgs culturals» aufbewahrt, hat das allerdings seine Folgen. «Die Abteilung ‚Kulturelles‘ ist von einem Dutzend auf mittlerweile etwa 160 Archivschachteln angewachsen», schätzt Hendry. Und auch das Regal mit Büchern zu lokalen, regionalen oder auch kantonalen Themen versammelt inzwischen an die 500 Publikationen. Kurz: Der Platz wird langsam knapp. Zum Glück verfügt der Gemeindearchivar neben dem eigentlichen kommunalen Archiv im Untergeschoss des Gemeindehauses in Sedrun über einen weiteren geeigneten Raum im örtlichen Schulhaus. «Wenn ich im Archiv Platz brauche, lagere ich einen Teil der administrativen Dokumente dorthin aus», erklärt Hendry.

Nur: Das Gemeindearchiv ist eigentlich vor allem dazu da, Schriftstücke aufzubewahren, die in direktem Zusammenhang mit der Administration und der Politik der Kommune stehen. Die Lösung wäre für Hendry klar: Die Abteilung «Fatgs culturals» würde in ein eigenes Kulturarchiv gehören. Doch so eines gibt es in Tujetsch nicht. Die Bestrebungen, eine derartige Institution einzurichten, sind aber seit geraumer Zeit vorhanden. Und das nicht nur im westlichsten Teil der Surselva. Überall in der Talschaft, ob Foppa, Lumnezia oder Cadi, gibt es Bemühungen, die entsprechende Lücke im Archivwesen zu schliessen, denn noch existiert zwischen Flims und Tujetsch kein einziges Kulturarchiv.

So etwas wie eine regionale Koordinationsfunktion hat in diesem Prozess der reformierte Castrischer Theologe und Kirchengeschichtler Jan-Andrea Bernhard übernommen. Was sich Bernhard zufolge bereits gezeigt hat: «Ein gesamtregionales Kulturarchiv Surselva zu gründen ist fast unmöglich.» Stattdessen setzt man auf subregionale kleinere Archive, die aber unter einem gemeinsamen Vereinsdach und mit einem einheitlichen Partner für die Kommunikation eng kooperieren sollen und vernetzt sein müssen. «Wenn wir jedes Archiv in einem lokalen Rahmen belassen, geben die Leute dort auch eher ihre Dokumente ab», meint Bernhard. «Die Subregionen der Surselva haben ja schon starke eigene Identitäten. Wir müssen die reale Situation der Einwohnerschaft ernst nehmen.» Das Bedürfnis nach einer Institution, der die Leute ihre historischen Schriftstücke anvertrauen wollen, ist für Bernhard mehr als ausgewiesen. «Und es braucht eine Lösung für die so genannte Abteilung 26 in den Gemeindearchiven; gerade auch bei Fusionen kann es da zu Problemen kommen.» Abteilung 26: In einem Normarchiv mit 42 Sektoren ist das die Abteilung «Kulturelles» oder eben «Fatgs culturals».

«Das Kulturarchiv ist sozusagen für die Geschichte der ‚kleinen Leute‘ da, für Dokumente, die gemäss den Regelungen des neuen Bündner Archivgesetzes weder im Staats- noch im Gemeindearchiv am richtigen Ort sind», sagt Bernhard. Die Einrichtung von Kulturarchiven in der Surselva müsse man nun forcieren, «die Notwendigkeit dazu ist vorhanden». Auch deshalb, weil in nächster Zeit wohl viele Häuser in der Region verkauft würden. Die jüngere Generation wandere zunehmend ab und benötige die Gebäude ihrer Vorfahren nicht mehr. Da stelle sich schnell einmal die Frage, was aus den Dokumenten werde, die bei Hausräumungen zum Vorschein kämen – gerade in einem Kulturarchiv könnten sie am richtigen Platz sein. Erste Archivgründungen jedenfalls würden in der Surselva wohl noch im laufenden Jahr erfolgen, prophezeit Bernhard.

In Tujetsch ist es das Forum Cultural, das ein subregionales Vorhaben vorantreibt. Archivar Hendry ist auch Aktuar dieses Kulturvereins, und er findet: «Das Kulturarchiv müsste ähnlich wie im Oberengadin aufgebaut sein. Es muss leben, es müsste verpflichtet sein zu Anlässen, zu Ausstellungen oder Referaten.» Damit werde es auch zugänglicher. «Das Gemeindearchiv ist ebenfalls öffentlich. Aber es gibt eine gewisse Hemmschwelle, es zu besuchen, und natürlich darf ich hier nicht alles zeigen. Im Kulturarchiv hingegen wird man alle Dokumente anschauen dürfen.» Wann es zu einer Neugründung in Tujetsch kommt, ist bei Redaktionsschluss des «Bündner Jahrbuchs» 2015 offen. Ein geeigneter Standort in und um Sedrun ist noch nicht gefunden. Aber immerhin: Es gibt Ideen, wo die Institution unterkommen könnte. Und Unermüdliche wie Tarcisi Hendry, die das Projekt vorantreiben.